Hans-Rolf Ritter
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Die konstruktiven Grafiken von Hans-Rolf Ritter sind am Konzept "geometrisch-abstrakt" genannter Gestaltung orientiert. Sie greifen also ein Bildmodell der klassischen Moderne auf und verschaffen ihm neue Aktualität.
Im geradezu kammermusikalisch verdichteten Kleinformat bieten die mehrfarbigen Linolschnitte eine Fülle markanter Bildzeichen, komplexer Flächenorganisationen und fein abgestimmter Farbigkeiten. Gestaltung sucht hier weniger nach dem mathematisch-exakten, konstruierten Ergebnis, eher intuitiv nach Ordnung, Dichte und Harmonie.
Tilman Reitz
Serie und Welt
Zu den Linolschnitten Hans-Rolf Ritters

Man hat das schon einmal gesehen – dass dieser Satz ganz Verschiedenes heißen kann, machen die Grafiken Hans-Rolf Ritters rasch und nachdrücklich bewusst. Mal stammt die Erinnerung von einem früheren Blatt, dessen formales Arrangement mit anderer Farbgebung wiederholt wird oder aus dem (häufiger) ein Detail vergrößert entnommen und variiert ist; mal folgt eine Gruppe der ohnehin als Serie angelegten Arbeiten einem enger bestimmten gemeinsamen Gestaltungsprinzip; mal stellen sich gegenständliche Assoziationen und oft historische Reminiszenzen ein: Fenster, Architektur, Kristalle, Moholy-Nagy, Morandi, Juan Gris. Überdenkt man die Lage genauer, kommen einander zwei Sorten von Wiedererkennungseffekt in die Quere: Sofern die gegenständlichen und historischen Bezugsmöglichkeiten einzelne Blätter nach außen öffnen, werden sie durch serieninterne Bezüge wieder in Frage gestellt. Was aus einer zunehmenden Dominanz langer, hoher Formen oder der Auslotung von Figur-Grund-Verhältnissen entwickelt wird, kann kaum gleichzeitig Hochhausfassaden meinen oder einfach eine Position der klassischen Moderne zitieren. Allenfalls übersetzt es frühere ästhetische Ansätze in eine eigene Problemstellung. Serie und Welt stehen in diesen Blättern also in einer gewissen Konkurrenz, oder anders gesagt: Die Serie tendiert dazu, eine eigene Welt zu bilden. So weit, so klassisch bzw. unschwer in klassische Begriffe ästhetischer Autonomiesuche zu übersetzen. Doch bevor man in diesem Sinn weiter denkt, ist zum einen der auffällige Zitat- oder besser Wiederaufnahmecharakter der Werke genauer zu prüfen. Sie sehen womöglich nicht bloß (ungewollt) „so aus wie ...“, sondern gehen Problemen nach, die zu bestimmbaren Zeitpunkten liegen geblieben sind. Zum anderen betonen sie eine bisher nicht erwähnte Dimension, die sozusagen zwischen Bild und Welt liegt – das Eigenleben symbolischer und formal-ornamentaler Ordnungen. Um beiden Aspekten auf den Grund zu gehen, lohnt es, jeweils einen Abstraktionsschritt zurück zu treten.

Kunst – oder ästhetische Produktion, die sich in der Folge dieser historisch recht außergewöhnlichen kulturellen Verdichtung verortet – kann heute nur zwischen verschiedenen Formen von Historismus wählen. Sie kann zitieren, neu kombinieren, verschieben, aber kaum den Anspruch erheben, das schlechthin noch nicht Dagewesene zur Darstellung zu bringen. Das stellt sich für viele Akteure im Kunstfeld selbstredend anders dar; je breiter und unübersichtlicher die von nichts und niemandem eindeutig reglementierte ästhetische Produktion ist, desto weniger herrscht auch ein allgemeines Bewusstsein für das, was schon einmal da war; überdies entwickeln sich die technischen Möglichkeiten rasant. Doch die sozialen Experimente damit, welche Gestaltungsweise erträglich ist und verbindlich sein kann, haben einen im Rückblick endlichen Kreis von Extrempositionen durchschritten. Namentlich der Anspruch, mit jeder neuen Position die Institution Kunst als solche anzugreifen oder in Frage zu stellen, hat an Endpunkte geführt, vom Readymade und der Reproduktion kommerzieller Ästhetik bis, wenn man will, zur Körper- oder Konzeptkunst. Das hat den Vorteil, dass man seither bestimmte Bedeutungsfragen zurückstellen kann. Es gibt auf der einen Seite zwar weiter gelungene und misslungene ästhetische Arbeiten, aber keinen Anlass mehr, über ihre sozusagen absolute Relevanz – und das heißt: über ihren Kunststatus – zu urteilen. Zugleich wird es weniger dringend bzw. zusehends weniger vorstellbar, diese Artefakte exakt in einem kulturellen Sinnhorizont zu verorten, sie also selbst als Urteile über kollektive Erfahrung und Praxis, Freiheits- und Glücksmöglichkeiten zu lesen. Ruft man sich zum Vergleich etwa spätromantische Symphonik oder Diskussionen über die vielansichtige Darstellung von Kaffeetischen in Erinnerung, wird der Unterschied klar. Generell ist Kunstkritik ein guter Indikator für den Ort, den ästhetische Artefakte in unserem öffentlich geteilten Weltverhältnis einnehmen. Das letzte Feld, in dem hier aus formalen Innovationen auf die Situation als Ganze geschlossen wurde, war vielleicht der Pop-Journalismus – doch auch dort findet man sich vermehrt mit dem Auffinden von Zitaten ab. Nebenbei nähern sich also in Sachen Innovation die Wahrnehmungen von Massen- und Hochkultur an.

Die Kritik verlagert sich so auf eine neue Weise ins Werk: wenn es nicht notwendig oder eindeutig Stellung zur Gegenwart nimmt, dann umso zwingender zur Vergangenheit. In welcher Weise man was wieder aufnimmt, ist ja nur dann zweitrangig oder ansatzweise vorentschieden, wenn Historismus als solcher einen markanten Sonderfall darstellt – wie in den Ostentationen der Gründerzeit oder im radikalen Unernst der Postmoderne. In einer historistischen Gesamtkultur sind dagegen spezifischere Bezugnahmen nötig als Wir-können-jetzt-alles oder Anything goes. Hans-Rolf-Ritter zeigt, denke ich, auch in puncto Wiederaufnahme, dass man mindestens zweimal hinsehen sollte. Zuerst stellt sich bei seinen Arbeiten wie erwähnt die Assoziation zu bestimmten Vorphasen und Strömungen der geometrischen Abstraktion ein. Es lohnt im Vorbeigehen festzuhalten, dass bereits die naheliegenden Vergleichskünstler relativ vorsichtig und ‚nachträglich’ vorgehen: Juan Gris hat dem Kubismus keine eigene formale Erfindung hinzugefügt, sondern nur fast akademisch den Ansatz der Vielansichtigkeit entfaltet; Moholy-Nagys transparente Schwebeflächen nehmen die instabilen Setzungen von Konstruktivisten wie Tatlin fast schon wieder zurück. Diese Fortsetzungen oder Stellungnahmen lassen allerdings wenig Raum für weiteres Durchprobieren – und ich vermute, dass sich der systematische Anspruch von Ritters Bildserie(n) tatsächlich ganz anders verorten lässt. Sein Thema ist (trotz einiger Versuche und Allusionen) weniger die Übersetzung von Raum in Fläche oder die Ausbalancierung von zunächst aggressiv Gesetztem. Vielmehr greift er, geschult durch die lange Geschichte gegenstandsloser Malerei, erneut das Grundproblem auf, wie sich überhaupt verantwortlich Bildfläche bzw. Form und Farbe darauf organisieren lässt. Die Fallstricke sind auch in seinen Blättern deutlich sichtbar: ungewollte Gegenstandsnähe, bloße Behauptung, bloße Dekoration. Fast noch klarer ist die Richtung, in der er Lösungen sucht: die Grenzzone von Grund und Figur. Flächen mit unwillkürlich variierenden Rändern, zwischen Gestalt und Nichtgestalt oszillierende Segmente, offen gelassene Zusammengehörigkeiten, Über- und Hinterschneidungen, als Vorder- und Hintergrund lesbares Hell und Dunkel, auch die räumlichen Anmutungen, die hier ihre Funktion finden – die Schnitte gehen so gut wie alle Möglichkeiten durch, die für flächig-geometrische Arbeiten in diesem Gebiet zu haben sind. Zwei besondere Techniken können eigens herausgehoben werden: Einerseits werden häufiger Formen verklammert, indem kleine Abschnitte aus ihnen aufs imaginär durch die gerade Linie defnierte Feld der jeweils herausragen (prägnant etwa in der Mitte von Figur XI/07), andererseits ziehen in vielen Blättern die Flächen sozusagen gemeinsam den Bildrand – und brechen gelegentlich aus ihm aus (besonders schön in XXIII/10a).

Eine mit der zuletzt genannten vergleichbare Strategie verfolgen Bilder Frank Stellas, in denen der Rahmen schlechthin zur Figur wird. Allgemein kommt damit als subkutane historische Bezugsgröße die mehrheitlich ungeometrische Kunst in den Blick, die Stella weiterentwickelt: der Abstrakte Expressionismus der 1940er bis 60er Jahre. Die reifen Konzeptionen von Pollock, Rothko, Motherwell, Stills, Klein, de Kooning und anderen verbindet ja mindestens dies, dass sie hart am Rand der Figuration arbeiten, lax gesagt: die expressive Geste durch systematisches Zupinseln oder Zutropfen auf der Bildfläche verankern. Ihr Ausgangspunkt ist mithin die gestalthafte Setzung, ihr Ergebnis deren tendenzielle, aber nie ganz abgeschlossene Zurücknahme, Objektivierung um den Preis der Desartikulation. Hans-Rolf Ritter geht umgekehrt vor. Seine Basiseinheit, die durch gerade Linien begrenzte Fläche, ist zunächst nur Grund oder (in der Mehrzahl) Muster, drängt jedoch sozusagen an die Schwelle der Gestalt – auch in diesem Fall, ohne sie je ganz zu überschreiten. Daraus ergibt sich mindestens eine harte Erfolgsbedingung der Blätter: Sie dürfen ihre Elemente weder einer figuralen Behauptung unterordnen noch aufs bloße Flächenarrangement beschränkt bleiben. Dies ist der spezifischere Grund dafür, dass zumal gegenständliche Assoziationen kaum vermeidbar sind, bei zu großer Stabilität aber das Gelingen der Arbeiten gefährden. Konkreter erklären sich so deren bevorzugte (und am wenigsten problematische) Gegenständlichkeitshorizonte: Weil jede potenziell gestalthafte Fläche zugleich als möglicher Grund den gesamten Bildraum mit definiert, wirken sie oft wie architektonische Ensembles und noch im Kleinformat monumental, lassen an kristalline Strukturen denken und vermitteln, selbst wo hohe Vertikalformen oder Teil-Durchblicke das Bild bestimmen, zumeist keinen offenen, sondern einen höhlenartigen und sogar klaustrophobischen Eindruck.

Diese Tendenz zur Abschließung lässt sich gut auf die zweite theoretisch aufhellbare Besonderheit der Grafiken beziehen: Die Elemente, die sie beinhalten bzw. aus denen sie bestehen, nehmen ab einem bestimmten Entwicklungsstand der Serie Schriftcharakter an (konzentriert von XXXa/08 bis IX/09), ohne dass ein Lektüreschlüssel verfügbar ist. Der Eindruck lässt sich auf mehrere Faktoren zurückführen. Die Flächen sehen zumal dort skriptural oder typografisch aus, wo sie kleinteiliger werden und ihre Grenzlinien Wiederholungen aufweisen, besonders dann, wenn solche Typen-Iterationen technisch, am Rechner erzeugt sind, wenn sie sich zusätzlich unseren Schriftkonventionen folgend auf zwei oder mehrere „Zeilen“ verteilen und die Farben durch Reduktion oder starke Hell-Dunkel-Kontraste ein „Schwarz auf Weiß“ umspielen. In ihrer Gesamtwirkung erfüllen solche – nur schwer systematisch zu erfassenden – Faktoren nicht zuletzt den ästhetischen Zweck, bloße Ornamentalität bzw. Muster-Haftigkeit zu vermeiden. Man kann für die fraglichen Blätter gut Erfolgskriterien feststellen, die den allgemeinen der Figur-Grund-Ambivalenz folgen: Die „Schrift“ darf sich nie einfach als solche abzeichnen, aber auch nie ins bloße, etwa bloß mehrfarbige Muster absinken. Eine ganz andere Frage ist, ob die angedeuteten Zeichen etwas Bestimmtes ausdrücken oder bedeuten.

Die Gründe, hier nicht sofort Nein zu sagen, sind abstrakt am besten zu fassen, wenn man postmoderne Zeichentheorie und Wittgensteins Ausführungen zur Unmöglichkeit von Privatsprachen einbezieht. Artefakte wie die Grafiken Ritters rücken, indem sie ein Weltverhältnis jenseits verbindlicher Bedeutungsordnungen vorführen, die Erzeugung privater Bedeutungsmuster in den Bereich des Plausiblen. Damit gehen sie definitiv einer Lockerung allgemeiner symbolischer Normen nach und erschließen eventuell neue individuelle Äußerungsmöglichkeiten. Die entsprechende theoretische Streitfrage lautet, wie viel Allgemeinheit im Feld des Zeichengebrauchs unverzichtbar und wie viel aussagekräftige Individualität darin möglich ist. Die berühmte Pointe Wittgensteins war, dass auch das scheinbar schlechthin Individuelle – Gedanken, Empfindungen, Absichten – erst im Medium geteilter Üblichkeiten der Zeichenverwendung thematisiert werden kann. Dafür spricht (mindestens), dass sprachliche Verständigung gewöhnlich zwischen mehreren Menschen stattfindet, dass richtiger Sprachgebrauch einer über-individuellen Kontrolle bedarf und dass der Sinn sprachlicher Praxis insgesamt in der Koordination von Handlungen liegt. Sätze wie: „Warum kann meine rechte Hand nicht meiner linken Geld schenken?“ (Philosophische Untersuchungen, § 268) veranschaulichen auf eine lose, aber einprägsame Weise alle drei Argumente – das Schenken ist ohne Partner witzlos, es ist sozial geregelt (etwa vom Leihen unterschieden), und ein Satz wie „Ich schenke dir ...“ ist erst in diesem Zusammenhang sinnvoll. Selbstredend wurde trotzdem jedes von Wittgensteins Argumenten philosophisch angegriffen – doch hier interessiert zunächst eher die Frage, wie künstlerisch auf den Tatbestand reagiert wurde, den er festhält. Die Antwort ist für große Teile der klassischen Moderne: durch die radikale Verweigerung etablierter Zeichenkonventionen. Anlass dazu gab (sehr grob gesagt) das Bedürfnis, sich den Gemeinplätzen oder Zwängen der symbolisch-sozialen Ordnung entgegenzusetzen, je nachdem eher mit libertären oder autoritären Sympathien. Kunstwerke waren dazu in der Lage, weil ihre Medien neben semantischen Dimensionen alle auch solche der reinen Erscheinung bzw. Wahrnehmbarkeit haben – Farbe, Linie, Klang, die zeitliche Abfolge wiederholbarer Elemente. Sie konnten dabei sogar eine überkonventionelle Stringenz beanspruchen, indem sie bis dato jeweils noch nicht entdeckte Grundeigenschaften ihres Mediums zum Thema machten – Farbauftrag und Bildfläche, die zwölf Halbtöne, die sinnferne Strukturiertheit oder irreduzible Sinnhaftigkeit sprachlicher Zeichen und vieles mehr. Wenn es nun eine postmoderne Zeichenlehre gibt, setzt sie jenseits dieser Bewegung an – genauer bei der Annahme, dass auch der gewöhnliche Zeichengebrauch keineswegs so festgelegt ist, wie es aus der Sicht der radikal modernen und ästhetischen Opposition erscheint. Nicht zuletzt angesichts des historischen Wandels, der von den politisierten Gesamtordnungen zum pluralisierten Massenkonsum führt, werden die Zeichenkonventionen gelockert; die zentralen Führeransprachen weichen zumindest einer Vielfalt von Cornflakes-Packungen. Hatte schon Wittgenstein am Beispiel einzelner Worte gezeigt, dass Sprachnormen – etwa die Verwendungsweisen von ‚Spiel’ – am Rand ausfransen bzw. keinen bestimmbaren Kern haben, stellen Autoren wie Derrida, Foucault oder Lyotard die Einheit des Kollektivs normaler, einander kontrollierender Sprachverwender in Frage: Die räumlich-zeitliche Streuung der Schriftzeichen und Laut-Tokens lässt keinen kontrollierenden Überblick zu, allenfalls setzen sich raumzeitlich begrenzt die Normalitäten und Zwänge bestimmter ‚Diskurse’ durch, und im Konfliktfall arbeiten mehrere zeichenpraktische Teilgemeinschaften gegeneinander. Was es bei alledem nicht (mehr) gibt, sind allgemein verbindliche Regeln des Zeichengebrauchs: die ständig vorkommenden Abweichungen können in den genannten Fällen nicht einfach als falsch abgetan werden. Um von hier aus in Richtung Privatsprache weiter zu gehen, bräuchte es nur eine unabhängige Größe, die den partialen Zeichengebrauch auch von der Teilgruppe abkoppelt, eine äußere Testinstanz, die nicht aus anderen Menschen besteht – und hierfür bieten sich erneut die Strukturen der ästhetischen Erscheinung an. Wenn man an ihnen lernen, scheitern oder passende Lösungen finden kann, könnte der nichtkonventionelle Zeichengebrauch aus sich heraus stabilisierbar sein.

So viel lässt sich wohl für sehr viele ästhetische Produktion im Zeitalter der reduzierten Bedeutungsanforderungen festhalten, für Kompositionen der Neuen Musik ebenso wie für nichtgegenständliche Bilder. Nahezu jede ansprechende oder überzeugende einzelne Position hat hier so etwas wie eine eigene Sprache, und oft wird diese erst in der Serie der Artefakte einer bestimmten Person „lesbar“. Die Besonderheit von Hans-Rolf Ritters Arbeiten ist, dass sie den Sprachcharakter durch ihre skriptural-typografischen Züge eigens thematisieren. In ihrer Abfolge lässt sich eine Art Evolution eines Zeichensystems beobachten (und gleich darauf seine Devolution: in den Blättern ab XIV/09 sind die Beinahe-Schriftzeichen schon wieder in fenster- und gefäßaffine Formen, die Zeilen in tentative Spiegelungen verwandelt), nach guter (post)moderner Sitte vom Signifikanten statt vom Bezeichneten ausgehend. Damit ist zugleich klar die Grenze benannt, an die jede ästhetische Privatsprache stößt: Hätte sie wirklich distinkte „Inhalte“, wären diese nur für den Sprachschöpfer-Autor verständlich bzw. – was gegen den Inhaltsbegriff spricht – unübersetzbar. Die Sprachproduktion, die in individuellen Werken bzw. Serien möglich ist, muss sich wohl dabei bescheiden, formale Züge von Zeichenordnungen neu zu erfinden, im grafischen Medium also die Wiederholungs- und Abwandlungsrhythmen typografischer Elemente, die Abfolgemuster des Erzählerischen, die Stimmungsaspekte eines Formenrepertoires und Ähnliches. Die bedeutungsträchtige Frage ist damit nicht, was in der jeweiligen Sprache ausgesagt oder ausgedrückt wird, sondern welche Rolle ihre hervorgehobenen Züge in der Gesamtheit des Werks oder der Reihe spielen.

Im Fall von Ritters Linolschnitten scheint mir eine Annahme besonders weit zu führen: Dass in ihnen sogar eine Sprache entsteht, macht sie besonders nachdrücklich zu einer eigenen Welt. Man wartet nun gewissermaßen gespannt auf die nächste evolutionäre Strukturbildung, das nächste seriengeschichtliche Ereignis. Die Arbeiten behaupten damit in gewisser Weise mehr Autonomie, als sich die radikale Kunst der Hochmoderne erlauben durfte. Sie tendieren in ihrer Folge, um ein letztes Mal historische Bezüge zu nennen, zum Pol klassischer Romane, romantischer Musik oder von formal entspannten Sonderfiguren der Moderne wie Morandi, Hopper und Diebenkorn – und sie nehmen, wie schon ihre melancholisch-gedeckte Farbigkeit ankündigt, das kulturgeschichtlich ältere Muster der meditativen Versenkung auf. Will man diesen Vorgang deuten, stehen ganz unterschiedliche Richtungen offen. Man könnte angelehnt an Niklas Luhmann den Versuch diagnostizieren, eine neue Eigenkomplexität autonomer Kunst zu gewinnen, entsprechend der Formel, dass diese generell „Ordnungszwänge im Bereich des nur Möglichen“ erschließt (Die Kunst der Gesellschaft, S. 238). Eine resignativere Formel wäre: „Kunst nach dem Ende der Kunst“ (Arthur Danto). Man könnte umgekehrt aber auch sagen, dass die Eigenweltbildung einer strikt individuellen Präferenz neben vielen möglichen anderen entspringt, die ggf. ähnlichen Temperamenten ein übersprachliches Einverständnis anbietet, vielleicht sogar das Gefühl, in der derart neu arrangierten Erscheinungswelt zuhause zu sein. Und man könnte schließlich betonen, dass trotz alledem das Außen ständig Einlass in die Blätter erhält, sodass sie in Wirklichkeit eher immer neue Impulse (aus vergangener und gegenwärtiger Kultur, Wahrnehmung und Zusammenleben) übersetzen, als nur einen ungestörten Rückzugsort auszubauen. Mir scheinen alle genannten Ansätze – in unterschiedlichem Ausmaß – berechtigt. Aber auch in diesem Fall sind die Bedeutungen gegenwärtig wohl wirklich so offen, wie das für die Moderne häufig irrtümlich behauptet wurde. Solange weiter Objekte entstehen, die durch ihr Sosein glaubwürdig ihre Daseinsberechtigung vorführen, wird man mit dieser Unterbestimmtheit leben können.
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