Hans-Rolf Ritter
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Die konstruktiven Grafiken von Hans-Rolf Ritter sind am Konzept "geometrisch-abstrakt" genannter Gestaltung orientiert. Sie greifen also ein Bildmodell der klassischen Moderne auf und verschaffen ihm neue Aktualität.
Im geradezu kammermusikalisch verdichteten Kleinformat bieten die mehrfarbigen Linolschnitte eine Fülle markanter Bildzeichen, komplexer Flächenorganisationen und fein abgestimmter Farbigkeiten. Gestaltung sucht hier weniger nach dem mathematisch-exakten, konstruierten Ergebnis, eher intuitiv nach Ordnung, Dichte und Harmonie.
Otto Martin
Was man sieht, ist, was man sieht
oder: „… auf der Suche nach einem neuen Gestaltungs-Alphabet …“

Ja, es gibt sie noch, diese Werkstätten, deren Atmosphäre so einzigartig vom Machen geprägt ist: die Farbbüchsen stehen wohl sortiert auf kleinen Regalen – nicht überbordend angehäuft – eher abgezirkelt, das Notwendige bereit haltend. Eine beherrschende Arbeitsplatte mit Holzpatina, in die Verletzungen, scharfe Schnitte eingegraben sind, belegen Spuren des Machens über mehrere Generationen hinweg – gleichsam als „Arbeits-Fundament“ des Künstlers, der damit sicher auch einen Traditions-Hinweis vermittelt. Eine moderne Handpresse mit schwerem Zylinderpaar bildet das Kernstück des Druckateliers. Die Luft ist geschwängert von einem typischen Eigengeruch - man „atmet“ Druckfarben, genießt die Ausdünstungen der Farben, die den Reiz von Druckwerkstätten ausmachen. Zu einem vertieften synästhetischen Erleben führen frische Drucke, die in 10er oder 12er Auflage zum Trocknen aufgehängt sind. Akkurat gereiht, zeugen sie vom aufwändigen Arbeitsprozess innerhalb der Werkserie „Figur“. Eine dichte Folge ausgewählter Drucke dieser Serie füllt präsentationsbereit die Wände. Bereits jetzt wird das Besondere dieses Ortes spürbar: Man besucht in Jugenheim keine Werkstatt, wie sie als Ansammlung von Druckstöcken, typographischen oder gefundenen Materialien geprägt ist, die den Geist des „alles ist eine potentielle Druckform“ vermittelte. Dort wartet Vieles darauf, entdeckt zu werden und zum druckgraphischen Einsatz zu kommen. Wobei die Szenerie einer nahezu untergegangenen, vom Handwerk geprägten Zeit beschworen wird - doch nicht im künstlerischen Tun: Die vitale Position des expressiven Druckens verdichtete sich vor allem in ihrem Gewährsmann – HAP Grieshaber -, dessen Credo „Drucken ist ein Abenteuer“ noch immer Rüstzeug in vielen zeitgenössischen Ateliers ist.
Hiervon scheint Hans-Rolf Ritters Position weit entfernt zu sein – entfernt von der Material-Offenheit, entfernt von der expressiven Druckspur, entfernt von der dort geübten Spontaneität des Druckens. Dies festzustellen schärft den Blick und führt im Zusammensehen von Atelier und Werkergebnissen zur Frage: „Welcher Druck-Philosophie verdanken sich diese Werke“?
Die ersten Schritte zur Gestaltfindung erfolgen auf dem Bildschirm: Am Anfang steht hier überraschend der Computer als gleichsam „erstes Zeichenpapier“. Auch hier heißt es – nur mit elektronischem Werkzeug, über das Zeichnen Formen zu „erfinden“, ein Zeichengerüst aus einer ersten Notiz zu generieren, das sich ohne abbildhaften Ausgangspunkt zur überzeugenden Komposition formt. Vieles kann erst einmal im Skizzenhaften schnell und roh auf den Schirm gebracht werden … nichts, was von außen kommt, ist gefragt – ein inneres formales Ringen um stets neue Bildgefüge, neue Bildkompositionen beherrscht dagegen das Suchen des Künstlers. „Es ereignet sich“, so Ritter, der sich damit Willi Baumeisters Philosophie nähert: „… der Künstler lässt sich überraschen von dem, was unter seinen Händen entsteht. Dadurch, dass er keinem greifbaren Vorbild nachstrebt, dass er auch zugleich an die Präexistenz seiner Werke glaubt, gelingt das Originale, das Einmalige, der künstlerische Wert…“ [1] Ein gezieltes Gestaltsehen, das die Lineaturen ordnet und zueinander in Beziehung setzt, schafft sich nach und nach Platz. Parallele Senkrechten können zu einem Quadrat einladen, polygonale Formen oder Rechtecke umspielen Restformen, antworten auf Dominantes, fordern Echo… dabei spielt der Zufall keine geringe Rolle.
Restflächen wollen zur gemeinten Form wachsen … doch wohin?
„Was (der Künstler) auf die Fläche brachte, hat er als Stadium und neuen Ausgangspunkt vor sich. Er ist dabei kaum in der Lage, seine Vision deutlich zu sehen, er muss sich den Ausdrucksmöglichkeiten hingeben, denn er hat nichts als diese, um zu einer Konkretisierung zu kommen… Alles sichtbar Werdende tritt in ein Kraftfeld von Beziehungen. Die Fläche hebt und senkt sich durch helle und dunkle Zonen der Farben… Alles Nicht-Notwendige ist falsch. In diesem Sinne gelangt er in ein Endstadium, wobei er mit seinen Mitteln auf Gedeih und Verderb verbunden bleibt. Das Unwillkürliche, das Selbstverständliche, das Einfachste entscheiden …“ [2]
Vieles wird sofort verworfen, so Gestaltungen, die ein Zusammenspiel unmöglich machen, die das Gesamtensemble konterkarieren oder zu allzu Exaltiertem drängen.
Ein schmerzhafter Findungsprozess ist es – wie der Künstler selbst betont – eine Bild-Geburt, die einer strengen Entwurfs-Hygiene unterliegt. Gnadenlos wird gelöscht, korrigiert, verschoben – sollte sich da etwas zu „Wahrnehmungsgemäßem“ verfestigen wollen … ein ständiger Kampf kreist um die Form, die in Offenheit und „Nicht-Anlehnung“ an Gesehenes entsteht, keine Abbreviatur im Sinne abstrahierender Kunst darf es sein, sondern eine neue Position ist gesucht, die in der Kontinuität des Arbeitens, in der formalen Kraft der Werkserie bestehen kann. „Nulla dies sine linea“ (Plinius der Ältere) ist das Prinzip, das den Arbeitsrhythmus bestimmt, und auf dem traditionellen Wege der Zeichnung zur Endform führt.

Mit dem Abstimmen der Farbquantitäten, der Farbnachbarschaften und der jeweils kompositionellen Farbkraft ist die erste entscheidende Phase im Entstehungsprozess markiert. Farben, die Ton-in-Ton oder kontrastierend die Flächen besetzen – von dichten Partien bis hin zu lasierenden Wirkungen – fordern die adäquate Umsetzung über die anspruchsvolle Technik der „verlorenen“ Form: Aus der Linolplatte schneidet der Künstler die erste Form und druckt diese mit der Tiefdruckpresse in Auflagenhöhe, die zehn bis zwölf Abzüge umfasst. Die Farbe Weiß ist dabei zumeist der Einstieg für die sukzessive Farbgewinnung zur Gesamtkomposition – auch das Papierweiß als Restform kann diese Rolle übernehmen. Die Besonderheit der verlorenen Form: Der zweite Druckstock für die zweite Farbe wird gewonnen, indem man dieselbe Linolplatte weiter beschneidet. Der erste Schnittzustand geht so unwiederbringlich „verloren“ - ein Nachdruck ist unmöglich. Mehr als ein halbes Dutzend Schnitt- und Druckvorgänge von zwei Linolplatten können für eine Figur notwendig werden, wobei die Idealität des Entstehungsprozesses von einer Platte und einer Farbe träumt. Es sind dies die intensivsten Momente der Arbeit, da die einmal getroffenen Entscheidungen – in Form- und Farbgebung – irreversibel sind. Hier werden außerordentliche Wirkungen auch mit geringen Mitteln und einfachen Materialien möglich. Jedes Auftragen einer neuen Schicht verlangt die genaue Vorstellung, was die jeweilige Farb-Festlegung für die Visualisierung der Bildidee insgesamt bedeutet. Somit ein hoch konzentrierender, anstrengender Prozess, der sich in der Passgenauigkeit der Anlage für alle Druckvorgänge ebenso spiegelt wie in der stets zu kontrollierenden Farbdichte, die ganz ohne Binnenstruktur in klarer Homogenität gefragt ist – Ausschuss darf hier kein Thema sein – kein Wort von den üblichen zehn Prozent!
Eine drucktechnische Vorgabe dokumentiert sich hier, die nicht die geringste Unebenheit in Begrenzung und Flächenausdruck zulässt – weder Andeutungen von Quetschrändern noch flaue Partien werden akzeptiert. Perfekte Wirkungsqualitäten sind einzulösen, sind selbst auferlegter Anspruch, sind Qualitätsanspruch per se, sind Streben nach optimalen ästhetischen Resultaten.
Kein vordergründiger Charakter oder ein kurzfristiges Interesse prägen Hans-Rolf Ritters„Figur“-Serie. Denn bereits seit den sechziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts ist bei ihm ein künstlerischer Weg auszumachen, der grundgelegt wurde innerhalb einer intensiven Ausbildung am Fachbereich 24 der Universität Mainz bei Prof. Irmgard Haccius. Die Collage – im klassischen Sinne der beginnenden Moderne – war dort zentrales Studien-Anliegen, das Ritter über Jahrzehnte hinweg fesselte und das als Basis für alles Weitere – insbesondere auch für die aktuellen Arbeiten zu sehen ist.
Nicht von ungefähr umschreibt der Künstler auch den Besuch einer Max Bill-Ausstellung als Schlüsselerlebnis, ja als wegweisend noch vor seiner Studienzeit. Der Schweizer Künstler war die treibende Kraft für die Weiterentwicklung der Konkreten Kunst, die in den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts von Piet Mondrian und Theo van Doesburg begründet wurde. Die Komposition als Balance der Elemente – eine der Kernintentionen dieser Kunstrichtung – wird grundlegend für Ritters Kunst. Solcherart Geistesverwandtschaft findet Bestätigung unter anderem in einem frühen Katalogbeitrag von Max Bill: „konkrete gestaltung ist jene gestaltung, welche aus ihren eigenen mitteln und gesetzen entsteht, ohne diese aus äußeren naturerscheinungen ableiten oder entlehnen zu müssen. die optische gestaltung beruht somit auf farbe, form, raum, licht … aus ihrer rein geistigen existenz in tatsache umgesetzt … “. [3]
Der engere Arbeitsbeginn zur vorliegenden Werkreihe „Figur“ datiert in das Jahr 2005. Dann – ab 2006 – jeglicher beruflichen Verpflichtung ledig, konnte der Künstler seine Arbeit intensivieren und kontinuierlich pflegen. Gegen Ende der ersten Dekade mündete die zunächst suchende, experimentierende Hauptphase in eine immer „reichere Ausbeute“ überzeugender Kunstwerke, die bis heute anhält.
Schlicht „Figur“ in fortlaufender Zählung nennt der Künstler seine derzeit mehr als 140 Bildgestaltungen umfassende Werkreihe. Und dokumentiert hiermit eher einen umfangreichen Arbeitsprozess, denn eine engere Motivfolge. Er schuf sich trotz der Strenge im Bildrepertoire ein unerschöpfliches Flächen- und Linien-Programm – mit reicher innerbildnerischer Differenzierung, das Wiederholungen vermeidet – im Detail wie in der Großform. In ikonographischer Neutralität und Uneindeutigkeit finden sich völlig ortlose, künstliche Konstrukte. Selbst wenn man glaubt, schon Gesehenem auf der Spur zu sein – dann entzieht sich jede Figur wieder schnell jedweder Gegenstands-Festlegung. „Ich vermeide die Assoziation“, so der Künstler: „alles, was irgendwie einschränkend und bestimmend wirkt, versuche ich zu vermeiden“. Nichts Anekdotisches oder Dekoratives ist intendiert – es geht immer um das Notwendigste. Hans-Rolf Ritter setzt auf die innere, auf die ästhetische Bild-Sensation in edlem Farbklang auf klar abgegrenzten Farbfeldern. Die Loslösung des Blicks von einer motivisch-erzählerischen Vorstellung ist dabei zwingend. Das Bild als eigene Realität – in seiner souveränen Einzigartigkeit – ins Recht zu setzen – dies ist hier Grundintention - ganz im Sinne des bereits zitierten Statements von Frank Stella „Was man sieht, ist, was man sieht“.
Kein über-sich-Hinausweisen auf außerbildnerische Bedeutungsfelder begegnet –eine eigene Welt tut sich auf, deren Realisationen für sich stehen. Das Spiel „konkreter“ Flächenformen, die nichts anderes darstellen als das, was sie darstellen, ist bereits grundgelegt in der Definition der Klassischen Moderne. „Theo von Doesburg verfasste 1930 das Manifest „Art concret“ und formulierte darin seine Position …, dass „gegenstandslose Bilder konkret sind wie auch die Gegenstände selbst, und zwar insofern, als beide nichts außer sich bezeichnen und mit sich selbst identisch sind“ “. [4]
Fraglos ist auch hier Drucken ein Abenteuer … nicht im Sinne überraschender Materialien verbunden mit allen Unwägbarkeiten beim Druckprozess, sondern im „sehenden Sehen“ - wie es Konrad Fiedler formuliert hat. Beim Künstler wie dann auch beim Betrachter wird ein sukzessives, entdeckendes Sehen ausgelöst, das nicht im Reiz der Oberfläche stecken bleibt. In der Vielfigurigkeit der Einzelformen wächst von Druck zu Druck über ein feines Netz an Farbflächen, über Nuancen und Farbabstufungen eine Art „Gestaltungs-Alphabet“, das sich im Zusammensehen der Werkreihe „Figur“ auf intellektueller Ebene zu einer ureigenen Bild-Grammatik in anspruchsvoller Ästhetik entfaltet: Bildgewordene Denkprozesse auf relativ kleinem Format, eingebettet in einen Strang der jüngeren Kunstgeschichte, unabhängig vom Auf und Ab der jeweiligen Aktualität, ungeachtet aller wechselnder Strömungen in der Einschätzung der traditionsreichen Kunst der Druckgraphik … all dies versammelt die „Figur“ in sich …

[1] Willi Baumeister, Das Unbekannte in der Kunst, Köln 1988, S. 138 f [2] Willi Baumeister, a.a.O., S. 140f [3] Max Bill, Katalog zur Ausstellung „Zeitprobleme in der Schweizer Malerei und Plastik“,1936 [4] Friedrich Meschede, „Vorhang auf“ in: Etwas von Etwas Abstrakte Kunst, Jahresring 52, Köln 2005, S. 18.

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